Seiten der jüdischen Geschichte. Yosyp Polyak

Yosyp Polyak wurde in der Region Shitomir geboren, absolvierte die Universität von Kiew, arbeitete als Lehrer in Shitomir. Seit 2002 lebt er in Stuttgart.

2021 wird in Deutschland als das Jahr des 1700-jährigen Jubiläums des jüdischen Lebens in diesem Land gefeiert. Genau 17 Jahrhunderte vergingen nach der Veröffentlichung des Dekrets des römischen Kaisers Konstantin des Großen, mit dem er auf Wunsch der Einwohner von Köln die Juden zu Mitgliedern der Stadträte werden ließ. Dieses Dekret gilt als erstes schriftliches Zeugnis für das Leben der Juden in Mitteleuropa.
Die Juden kamen ursprünglich zusammen mit den römischen Legionen an den Rhein, sie trieben Handel in den von den Römern gegründeten Rheintalsiedlungen. Die jüdische Bevölkerung spielte eine große Rolle beim Bau der deutschen Städte und der Entwicklung ihrer Wirtschaft. Aber es gibt viele tragische Seiten in der Geschichte der Beziehungen zwischen Juden und Deutschen. Einer von denen, verbunden mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs, möchte ich mich heute erinnern.
Aber zuerst möchte ich bemerken, dass zu allen Zeiten mein dankbares Volk nicht nur speziell jenen Ländern, die es auf ihrem Territorium aufgenommen haben, sondern auch der ganzen Welt großen Nutzen gebracht hat. Es genügt zu erinnern, dass unter 850 Nobelpreisträgern (Daten 2013) 173 Juden waren, und noch bei 20 weiteren ein Elternteil Jude war. Dies deutet darauf hin, dass ein Volk, das weniger als 0,2% der Weltbevölkerung ausmacht, der Welt 22% aller Nobelpreisträger gegeben hat, die in allen Bereichen des menschlichen Wissens herausragende Erfolge erzielt haben. Dabei überlebten die jüdischen Preisträger Eli Wiesel und Imre Kertes während des Holocaust in deutschen Todeslagern. Wissenschaftler wie Walter Kohn, Otto Stern, Albert Einstein und Hans Krebs mussten aus Nazi-Deutschland fliehen, um der Verfolgung zu entgehen.
Bereits 1933 führten die Nazis eine groß angelegte antijüdische Aktion durch, die den Beginn einer massenhaften Gesetzlosigkeit markierte. Auf Vorschlag des Kollektivs deutscher Studenten fand die Aktion Buchbrand von Heinrich Heine, Thomas Mann, Karl Marx und anderen Autoren am 10. Mai in Berlin statt.
Zur Politischen Polizeiverwaltung des NS-Staates gehörten mehrere Unterabteilungen, darunter auch eine Judenabteilung 2W.
Ursprünglich studierte die Judenabteilung die zionistische Bewegung, die Nazis prüften die Möglichkeiten der Judenverbannung ins Ausland ohne Mitnahme des Eigentums. Nach den Nürnberger Rassengesetzen wurden Juden in Deutschland ab dem 15. September 1935 verpflichtet, ihr Eigentum zu deklarieren. Die antisemitischen Raubüberfälle der „empörten“ Bürger erhielten dadurch einen rechtlichen Hintergrund, der am 9. November 1938 zu einem großen jüdischen Pogrom führte, bei dem Eigentum zerstört, Menschen getötet oder in Konzentrationslager gebracht wurden. Die Schuldigen wurden ermittelt, indem die Juden zu einer Milliarde Reichsmark verurteilt wurden.
Im März 1933 wurde in der Nähe von München ein Konzentrationslager gebaut, 1937 waren es in Deutschland bereits 16 Konzentrationslager. Der Pastor des Berliner Stadtteils Dahlem, der Pazifist Heinrich Grüber (1891-1975), rettete Juden unter dem faschistischen Regime. Er wurde verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht.
Anmerkung: Von den ersten 1013 aus Stuttgart deportierten Juden kehrten nur 43 Häftlinge des Rigaer Ghettos nach Deutschland zurück.
Seit dem 1. September 1941 durften laut Polizeiverordnung jüdische Kinder ab 6 Jahren ohne einen sechszackigen Stern auf der Brust mit der Aufschrift „Jude“ nicht mehr in der Öffentlichkeit erscheinen. Am 19. November 1941 verbot Adolf Eichmann die Auswanderung der Juden. Somit ignorierte das Auswanderungsverbot die Meinung der Weltöffentlichkeit, der man vorher den Tod von Juden in Lagern, in denen exorbitante Arbeit mit eingeschränkter Ernährung verwendet wurde, als «natürlichen Verlust» erklärte.
Von den Staaten, die am Völkermord an Juden beteiligt sind, zeichnen sich in dieser Zeit drei Länder aus, die Antisemitismus auf staatlicher Ebene praktizierten – Deutschland selbst und seine Verbündeten Ungarn und Rumänien.
Bereits 1938 wurde in Ungarn eine Reihe von antijüdischen Gesetzen verabschiedet. Und in 1941 verluden die Ungarn die Juden in Güterwagen und transportierten sie über die ehemalige Grenze der UdSSR in die Hände der Deutschen. Am 27.-28. August 1941 wurden 23600 friedliche jüdische Einwohner, darunter 18000 Juden aus Ungarn, getötet. Die Erschießung wurde von mobilen Strafeinheiten sowie Truppen unter dem Kommando von Friedrich Eckeln mit Unterstützung des 320. Polizeibataillons durchgeführt. Das Massaker von Kamenez-Podolsk wurde zu einer Art Rubikon in der Politik der Vernichtung von Juden: Zum ersten Mal wurden nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder erschossen.
Die „Judenfrage“ in Rumänien wurde von der Macht als Befreiung von ihren „heimischen“ Juden angesehen. Am 21. Juni 1941 wurden in Rumänien Gendarmenlegionen gegründet, zu deren Vorgehensweise Vergewaltigungen, Raubüberfälle und Ermordung von Juden zählten. Im Juli 1941 bemerkte der Kommandeur der 11. deutschen Armee Eugen von Schobert: „…barbarische Methoden der Vernichtung von Juden durch rumänische Soldaten diskreditieren die rumänische und deutsche Armee in den Augen der lokalen Bevölkerung“.
Der Völkermord an den Juden in Nazi-Deutschland und in den Ländern seiner Verbündeten breitete sich mit Beginn des Zweiten Weltkriegs auf die besetzten Gebiete aus. Seit 1942 rauchten auf dem polnischen Territorium ununterbrochen die Lagerrohre der Krematorien, die Leichen der Roma, der Polen, der Russen verbrannten. 80% der Gesamtzahl der getöteten Gefangenen bildeten Juden aus 9 Ländern Europas.
Das Unglück kam auch in meine Heimat Shitomirshchina. Während der Erschießungsaktion in der Alten Kotelnja stellte sich meine Oma Sosja Lejserson schützend vor ihre Kinder Zlata (27.09.1906), Moissej (6.01.1912) und Ida (5.02.1910), weswegen sie bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Ihr Name wird im «Buch des Gedächtnisses der Ukraine» auf dem Gebiet von Shitomir eingeschrieben.
Die Nazis haben die Schreck-Aktionen ausgiebig genutzt. Nur im Gebiet von Olevsky von Shitomir wurden mehrere Erschießungsaktionen von Einwohnern von Dörfern Slowetschno, Begun, Kamenka, Kopische, Hotschino ausgeführt. Das Eigentum der erschossenen Juden wurde beschlagnahmt.
In den ersten Tagen des Krieges gingen Männer an die Front. Frauen, Kinder, alte Männer versuchte man zu evakuieren, was manchen gelang. Ich möchte über die Schicksale meiner Landsleute erzählen, deren Schicksale sich, wie große Tropfen Wasser, in der Geschichte des Volkes spiegeln.
An der Front trugen die Brüder Israel und Mordko aus Shitomir ihren Beitrag zum Kampf gegen den Nationalsozialismus bei. Im Hinterland arbeiteten ihre Frauen. Nach jüdischer Tradition unterhält der Mann seine Familie. Frauen wurden beruflich nicht ausgebildet, dies sorgte für Schwierigkeiten in der Fremde.
Israil-Azriel Schmul-Melechowitsch Press wurde am 8. Dezember 1905 geboren, er war der Sohn von Schmul-Melech Press und Simha. Zu Kriegsbeginn wurde die Familie Press in das Dorf Tumak des Wolodarsker Bezirkes des Gebiets Stalingrad evakuiert. Am 10. Dezember 1941 wurde Israil in die Rote Armee berufen. Seine Frau Ethel Gdalewna Press, geboren am 11. März 1905, Tochter von Gdal Gershkowitsch Schmeis und Motlja, arbeitete nach der Evakuierung in einer Fischfabrik, wo auch Israil bis zu seiner Einberufung als Hauptbuchhalter arbeitete.
Vor dem Krieg absolvierte Israil Press die Schule und Buchhalterkurse, arbeitete in seinem Beruf in Kotelnja (Wolhynien Ort Koteljansk). Das Ehepaar bekam am 2. Mai 1927 einen Sohn Michael und am 2. August 1934 eine Tochter Raisa. Der zweite Sohn Nathan wurde in Shitomir am 23. Februar 1941 Jahr geboren.
Ende des Jahres 1942 wurde Israil Press als Mitglied der Verteidigung von Stalingrad, Soldat des 899. Schützenregiments, 1. Bataillon der Anti-Panzer-Kompanie als vermisst gemeldet. Das Vorankommen der deutschen Truppen zwang Ethel mit den Kindern ins tiefe Hinterland zu ziehen, in Kirgisistan arbeitete sie in der Sowchose «Juan-Tuba». Ende August 1944 kehrte die Familie Press in ihre Heimat zurück. Nathan, Sohn von Israil Press, lebt derzeit in den USA.
Israils Bruder Mordko-Meer Melechowitsch Press wurde 1912 in der Ortschaft Leschin geboren. Am 27. Juni 1941 wurde er vom Shitomir SWK zur Roten Armee einberufen. Seine Frau, Sara Chaimowna Friedman wurde in die Stadt Engels des Saratower Gebiets evakuiert, arbeitete bis zum Kriegsende in einer lokalen Fleischerei. Ende 1941 wurde Mordko Press als vermisst gemeldet. Anfang 1945 kam die Nachricht über den Verbleib des Oberleutnants Mordko Press auf dem Territorium der Tschechoslowakei. Nach dem Krieg kehrte Mordko mit den Orden des Roten Sterns und des Vaterländischen Krieges nach Shitomir zurück. Bald wurde Mordko abgeordnet, bei den Gewerkschaften von Birobidschan zu arbeiten. Mordkos Kinder leben heute in Israel.
Nach der Befreiung der ukrainischen Gebiete von der faschistischen Besatzung begannen die Juden, die in der Evakuation und an der Front überlebt haben, nach Shitomirshchina zurückzukehren.
Als erster kehrte im Januar 1944 Jankel Itzhakewitsch Pusemskij, geb. am 29. Oktober 1927, Sohn des koteljanischen Tischlers Itzhak Gershewitsch Pusemskij und Sura Jankelewna, zurück. Im November 1944 wurde Jankel in die Rote Armee berufen. Nach der Demobilisierung ließ er sich in Kuibyshev nieder. Heute lebt er ebenfalls in Israel.
Im Mai 1944 kehrte in die Alte Kotelnja die Familie der Malka Ruvinowna Belfer, geb. am 10. Januar 1900, aus der Evakuierung. Sie war die Tochter von Ruvin Itzhakowitsch Sonz und Dwojra-Sure (1874-22.12.1941).
Die Besatzerschergen wurden nach der Befreiung der Gebiete für ihre Gräueltaten verantwortlich gemacht. Es wurde ermittelt, wer die fruchtbare schwarze Erde aus dem benachbarten Dorf Studenez des Gebiets von Korostyshevsky nach Deutschland transportiert hatte, und wer welches Eigentum der Getöteten als Belohnung für die Suche und Denunziation von Mitdorfbewohnern bekommen hatte. Im März-April 1944 wurden die örtlichen Besatzerschergen zum Militärdienst in Strafeinheiten der Roten Armee mit den bis zum Ende des Krieges geltenden Absperrungen einberufen.
Die Familien, die in ihre Heimatorte zurückkehrten, hatten es schwer. Der gebürtige Stuttgarter, Philosoph Georg Hegel sagte, es sei besser, nie etwas zu haben, als zu verlieren, was man hat. Nach der Rückkehr in ein ehemaliges jüdisches Schtetl sagte meine Mutter: „Wir hatten alles, es blieb nichts“. Auch bei den Ghetto-Freundinnen meiner Mutter war nichts mehr übrig. Nach der asiatischen Gastfreundschaft und der Rückkehr in ihre Heimat, sah man geplünderte Häuser der ermordeten Juden, Ukrainer, Polen. Die Orte der Erschießungen wurden von Plünderern auf der Suche nach Schmuck durchwühlt, auf den Gräbern hatte Vieh geweidet. 1944 hatte der Dorfrat von Kotelnja anderes zu tun, als auf die Anliegen der Rückkehrer einzugehen; es war notwendig, die Kolchose „Bolschewik“ wieder herzustellen.
Meine Mutter erinnerte sich, dass auch vor dem Krieg die Leute nicht reich waren: die Mädchen liefen sogar barfuß zum Tanzen nach Shitomir. Erst wenn sie die ersten Straßen erreichten, wuschen sie ihre Füße in einer Pfütze, um danach ihre Schuhe anzuziehen. Man bereitete einfache nationale Gerichte vor, teilte sie, freute sich über die Jugend, lachte…
Alles veränderte sich nach der Rückkehr aus der Evakuierung: nicht mal solch einfache Freuden waren den Menschen vergönnt, als sie in ihre zerstörten, ausgeraubten Häuser zurückkehrten. In jeder Familie gab es Verluste: Jemand starb an der Front, jemand wurde von den Deutschen erschossen. Unklar war das Schicksal von Tante Leja Perzewna Sonz, geboren 1914, der Tochter von Perez Moschkowitsch und Sosja Lejserzon. Wir schickten eine Anfrage und es stellte sich heraus, dass Leja Sonz von den Deutschen am 25. Dezember 1941 am Stadtrand von Jewpatoria erschossen wurde. Damals wurden die seit 400 Jahren auf der Krim angesiedelten migrantischen Juden aus Italien massenhaft erschossen. Sie sprachen tatarisch, und für die Besatzungsbehörden war ihre Rassenherkunft unklar. Im Dezember 1941 kam die Kaiserliche Kommission Berlins zu dem Schluss, dass die Krimtschaken dem Judentum aufgrund der Einhaltung der rituellen Bräuche der jüdischen Religion angehören. Infolgedessen wurden 2,5 Tausend Krymschaken erschossen, die mehr als ein Drittel der Gesamtzahl dieses Volkes ausmachten.
Die Pläne der Nazis für den Osten liefen über die territoriale Eroberung der Räume hinaus. Im Erlass des Wehrmachtstabschefs Generalfeldmarschall W. Keitel steht geschrieben: „…das menschliche Leben in betroffenen Ländern hat keinerlei Wert…“
Die Weisen der Antike warnen: Der Fuchs wechselt das Fell, nicht das Temperament.
Mein Vater Sejdel Polyak wurde posthum mit dem Orden und der Medaille des Kämpfers gegen den Nationalsozialismus ausgezeichnet. In einem Brief von der Front im Mai 1942 schrieb er: „Ich verstecke mich nicht hinter fremden Rücken“. Im modernen Krieg, sollte einer beginnen, kann sich niemand mehr verstecken.

Написать комментарий

Ваш адрес email не будет опубликован. Обязательные поля помечены *

ПОЗВОНИТЕ МНЕ
+
Жду звонка!